Stra­te­gie ohne Ziele – wie kann das gehen?

9. November 2015 von Dirk Jung

Die klas­si­sche stra­te­gi­sche Planung setzt sich spezi­fi­sche („SMARTe“1) Ziele und versucht dann, diese Schritt für Schritt wohl­durch­dacht zu errei­chen. Die meis­ten unse­rer Kund*innen, insbe­son­dere größere etablierte Unter­neh­men, planen ihre Entwick­lung auf diese Weise. Doch zu diesem Verfah­ren gibt es Alter­na­ti­ven, denen wir in unse­rer Praxis vor allem bei erfolg­rei­chen Start-up Unter­neh­men begeg­nen. Im Folgen­den werden wir diese Alter­na­ti­ven zu eini­gen einpräg­sa­men Bildern verdich­ten, die wir der Natur entlehnt haben. Bitte wundern Sie sich nicht, wenn wir dabei hemmungs­los zwischen Bild­spra­che und Unter­neh­mens­spra­che hin- und hersprin­gen.

Die Stra­te­gie der Wölfe

Foto eines jaulenden Wolfes.

Zunächst der Klas­si­ker. Die Jagd­stra­te­gie eines Wolfs­ru­dels ist mit der tradi­tio­nel­len Stra­te­gie­ent­wick­lung in einem Unter­neh­men vergleich­bar. Wolfs­ru­del sind hier­ar­chisch aufge­baute Orga­ni­sa­tio­nen mit klarer Führung und Rollen­tei­lung. Ihre Jagd verläuft in mehre­ren Phasen:

  • Markt­be­ob­ach­tung: Welches Beute­wild ist im Markt­seg­ment gerade verfüg­bar? Was sagt die Auswer­tung von Gerü­chen, Fähr­ten und Geräu­schen? Welche „Oppor­tu­ni­ties“ bieten sich an?
  • Ziel­aus­wahl: Aus der Menge der poten­ti­el­len Beute­tiere wird eine Auswahl getrof­fen. Meist entschei­den die Wolfs­ru­del dabei nach dem Prin­zip der „low hanging fruit“, nehmen also schwä­chere oder jüngere Tiere in die engere Wahl.
  • Aktion: Wölfe haben eine ausge­prägte „leadership“-Struktur. Das Rudel rennt keil­för­mig hinter dem Leit­wolf her, jeder Wolf kennt seinen Platz im Rudel, seine Rechte und Pflich­ten. Die Jagd verläuft extrem erfolgs­ori­en­tiert. Akzep­tierte Hier­ar­chie und Funk­ti­ons­tei­lung gemäß den Fähig­kei­ten der Einzel­nen sind das Erfolgs­ge­heim­nis.
  • Gewinn­ver­tei­lung: Wie bei den meis­ten Unter­neh­men bekommt der Leit­wolf immer das größte Stück von der Beute….

Das Instru­men­ta­rium der Stra­te­gie­ent­wick­lung und –umset­zung ist bei diesem Verhal­tens­mo­dell durch Ziel­kas­ka­den und dem Bedürf­nis nach Mess­bar­keit und klaren Zeit­vor­ga­ben geprägt. Häufig steht dabei der KPI (Key perfor­mance indi­ca­tor) im Zentrum der Aufmerk­sam­keit und wird als Maß für eine erfolg­rei­che Stra­te­gie vom Gesamt­un­ter­neh­men bis in die klei­ne­ren Orga­ni­sa­ti­ons­ein­hei­ten herun­ter­de­kli­niert. Wie sehr das beispiels­weise für die Unter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­tion via Social Media gilt, belegt folgen­des Zitat aus einem Bran­chen-Blog: „Key Perfor­mance Indi­ca­tors, sind aus dem Social Media Moni­to­ring nicht mehr wegzu­den­ken. (…) Natür­lich verfolgt jede Abtei­lung eigene Ziele und verfügt damit über spezi­fi­sche KPIs und Metri­ken, mit denen deren Errei­chungs­grad ermit­telt wird. Dennoch leiten sich die Abtei­lungs­ziele von den Unter­neh­mens­zie­len ab. Idea­ler­weise sind die Abtei­lungs-KPIs daher auf die globa­len Firmen­ziele abge­stimmt und grei­fen inein­an­der über.“

Die Salbei-Stra­te­gie

Foto einer Salbeipflanze.

Die Salbei­pflanze ist für ihre ausge­prägte Photo­tro­pie bekannt. Fast alle Pflan­zen sind photo­trop, rich­ten ihr Wachs­tum also nach dem Licht aus. Der Salbei verbiegt und dreht sich dabei aller­dings ganz beson­ders virtuos. Erfolg­rei­ches Unter­neh­mens­wachs­tum kann ähnlich verlau­fen: an die Stelle von stra­te­gi­schen Zielen treten die Beob­ach­tung des Sonnen­lichts und das konti­nu­ier­li­che Darauf-Zu-Wach­sen. In welchem Bereich haben sich bei uns beson­ders viele Refe­ren­zen ange­sam­melt? Lasst uns das doch weiter ausbauen! Was geht im Markt gerade beson­ders gut? Wofür zahlen Auftrag­ge­ber gerade die höchs­ten Preise? Lasst uns dort hinwach­sen! Welche öffent­li­chen Themen und Probleme stehen zurzeit im Rampen­licht? Da schie­ben wir doch noch einen Zweig raus!

Diese Wachs­tums­stra­te­gie ist von einem ausge­präg­ten Reagie­ren auf Markt­po­ten­tiale und thema­ti­sche Moden geprägt. Sie setzt hohe Flexi­bi­li­tät und perma­nente Beob­ach­tung der Oppor­tu­ni­tä­ten voraus. Die Gefahr dabei ist, dass das Unter­neh­men nach eini­ger Zeit viel­leicht nicht mehr genau weiß, ob es Salbei, Sonnen­blume oder Sumpf­dot­ter­blume ist. Haupt­sa­che, Licht und Wachs­tum.

Die stra­te­gi­schen Instru­mente dieses Ansat­zes setzen ihren Fokus auf die syste­ma­ti­sche und/oder intui­tive Beob­ach­tung der Märkte, die Bewer­tung und Auswahl von Oppor­tu­ni­tä­ten sowie die größt­mög­li­chen Flexi­bi­li­sie­rung und Agili­sie­rung der Unter­neh­mens­pro­zesse. Stell­ver­tre­tend für diese Haltung mag das bekannte Stra­te­gie­in­stru­ment der SWOT2-Analyse stehen. Der stra­te­gi­sche Zukunfts­ent­wurf voll­zieht sich hier nach dem Prin­zip „Licht und Schat­ten“:

  • Stär­ken nutzen
  • Schwä­chen abbauen
  • Chan­cen ergrei­fen
  • Risi­ken verrin­gern

In unse­rem Kunden­port­fo­lio beob­ach­ten wir das „photo­trope“ Stra­te­gie­ver­hal­ten beson­ders im Dienst­leis­tungs­sek­tor, wo die Kosten der schnel­len „Umrüs­tung“ des Ange­bots gemäß verän­der­ter Licht­ver­hält­nisse rela­tiv nied­rig sind, also z.B. Bera­tung, Trai­ning, Inter­net-Services oder spezi­elle Vermitt­lungs­dienste (z.B. von Kapi­tal­an­la­gen und Versi­che­run­gen).

Die Glüh­würm­chen-Stra­te­gie

Foto eines Glühwürmcens mit glühendem Hinterteil.

Beim klei­nen Leucht­kä­fer, vulgo: Glüh­würm­chen“, bedie­nen sich die Weib­chen einer bewähr­ten Stra­te­gie, um den opti­ma­len Part­ner fürs kurze Leben zu finden. Sie leuch­ten und warten. Genauer gesagt, sie suchen Orte auf, an denen eine hohe Dichte mögli­cher Part­ner herrscht, warten auf den rich­ti­gen Zeit­punkt (nämlich nachts, sonst sieht sie ja keiner), machen es sich dort in einer Markt‑, pardon, Mauer­ni­sche gemüt­lich und leuch­ten, was das Zeug hält. Und haben Geduld.

Im Gegen­satz zum hyper­ak­ti­ven Wolfs­ru­del oder zum sich stän­dig neu ausrich­ten­den Salbei konzen­triert sich diese Stra­te­gie darauf, zur rich­ti­gen Zeit im rich­ti­gen Kunden­seg­ment zu sein und dort mit aller Kraft sicht­bar zu werden. Glüh­würm­chen­frauen rennen ihren poten­ti­el­len Part­nern nicht hinter­her, sie konzen­trie­ren sich auf ihre Strahl­kraft am Markt – auch in Konkur­renz zu ande­ren Glüh­würm­chen­da­men. Ihr stra­te­gi­sche Hand­lungs­ma­xime lautet: Mache Dich so attrak­tiv, dass Deine poten­ti­el­len Part­ner aktiv auf dich zukom­men und froh sind, wenn sie einen Termin bei Dir bekom­men. Anders ausge­drückt, sie erhö­hen syste­ma­tisch die Wahr­schein­lich­keit, von Kund*innen gefun­den zu werden.

Unter­neh­men mit Glüh­würm­chen-Stra­te­gie legen ihr Schwer­ge­wicht auf die Pflege ihrer Marke und ihres Allein­stel­lungs­merk­mals, die Entwick­lung inno­va­ti­ver Produkte sowie auf ihre Sicht­bar­keit am Markt durch z.B. Werbung, Vernet­zung, Präsenz im Inter­net und Koope­ra­tion mit stra­te­gi­schen Part­nern.

Graphische Darstellung eines Business Model Canvas.
Busi­ness Model Canvas (Quelle: A. Oster­wal­der, Y. Pigneur: Busi­ness Model Gene­ra­tion: A Hand­book for Visio­na­ries, Game Chan­gers, and Chal­len­gers, New York 2010)

Die stra­te­gi­sche Posi­tio­nie­rung des Glüh­würm­chens lässt sich zum Beispiel gut mit dem Instru­ment der „Busi­ness Model Canvas“ abbil­den. Die nach­ste­hende Abbil­dung zeigt das Schema der Busi­ness Model Canvas in ihrer verbrei­tets­ten Vari­ante. Im Zentrum steht dabei die „value propo­si­tion“, also der Mehr­wert, den das Unter­neh­men für seine Kund*innen gene­riert und anbie­tet. Weitere Bausteine dieser Stra­te­gie sind u.a. Alli­ierte, Kommu­ni­ka­ti­ons­ka­näle und Kunden­be­zie­hun­gen. Die Kern­frage dabei lautet stets: Wie brin­gen wir das Glüh­würm­chen am besten zum Leuch­ten?

Wir benut­zen dieses Modell inzwi­schen häufig bei Unter­neh­men, zuneh­mend aber auch bei non-profit Orga­ni­sa­tio­nen, die sich fragen, was sie der Welt eigent­lich zu bieten haben und wie sie es dieser Welt in stra­te­gisch durch­dach­ter Form vermit­teln wollen. Es lässt sich aller­dings auch gut mit den Instru­men­ten der „Wolfs­stra­te­gie“ kombi­nie­ren, um aus der pyra­mi­da­len Ziel­kas­kade hinaus und in die Kunden­per­spek­tive hinein­zu­fin­den.

Die Zugvo­gel-Stra­te­gie

Foto eines Vogelschwarms im Sonnenuntergang.

Vogel­freunde wissen, dass diese Meta­pher noch stär­ker hinkt als die ande­ren. Denn das stra­te­gi­sche Verhal­ten, von dem wir hier spre­chen, ist eigent­lich so menschen­ty­pisch, dass es in der übri­gen Natur nur in Ansät­zen vorkommt.

Wie der Salbei und das Glüh­würm­chen werden auch hier keine spezi­fi­schen Ziele und Meilen­steine defi­niert („Frei­tag, 16:00 Uhr, Zwischen­lan­dung der Kranich­fa­mi­lie auf Gran Cana­ria“) sondern die stra­te­gi­sche Entschei­dung lautet: Wir flie­gen nach Süden! Wir hoffen und wissen, dass wir dort etwas finden, was besser ist, als das, was wir hinter uns lassen.

Man könnte auch die jähr­li­chen Tier­wan­de­run­gen in der Seren­geti bemü­hen: Die Märkte sind abge­grast, die Tech­no­lo­gie ausge­knautscht, das Inves­ti­ti­ons­klima verschlech­tert sich und die Konkur­renz um die weni­gen Wasser­lö­cher nimmt über­hand. Also bricht unser Unter­neh­men dort­hin auf, wo es grüne Weiden und weni­ger Wett­be­wer­ber vermu­tet, ohne zu wissen, wann es dort ankommt, was es dort erwar­tet und ob sich der Weg lohnen wird. Unter­wegs lauern Gefah­ren, die Ressour­cen müssen sorg­fäl­tig einge­teilt werden, der Weg verläuft in Kurven, das Risiko sich zu verir­ren oder gefres­sen zu werden, ist groß.

Ein markan­ter Unter­schied zur Tier­welt besteht aller­dings darin, dass eine solche Explo­ra­ti­ons- und Expe­di­ti­ons­stra­te­gie bei Orga­ni­sa­tio­nen nicht nur von Not und Druck befeu­ert wird sondern auch von Vision, Aben­teu­er­lust und Pionier­geist.

Unter­neh­men, die sich auf den Weg in den Süden machen, benö­ti­gen für Ihre Reise vor allem Instru­mente zur Stand­ort­be­stim­mung, zur Szena­rien- und Risi­ko­ab­schät­zung, zur Sondie­rung neuer Märkte und Tech­no­lo­gie­fel­der sowie stra­te­gisch ausge­wählte Reise­ge­fähr­ten und eine Ressour­cen­aus­stat­tung, die sie unter­wegs nicht verhun­gern lässt. Nicht selten sind solche Unter­neh­men deshalb Toch­ter­ge­sell­schaf­ten oder Entwick­lungs­ab­tei­lun­gen größe­rer Unter­neh­men, die mit der klas­si­schen „Stra­te­gie der Wölfe“ das Geld verdie­nen, um sich Expe­di­tio­nen mit unge­wis­sem Ausgang leis­ten zu können. Eine solche „Toch­ter“ eines unse­rer Indus­trie­kun­den bezeich­net sich selbst als „The Group’s inno­va­tion engine“ und beschreibt in einem Jahres­be­richt die Himmels­rich­tun­gen ihrer offe­nen Explo­ra­tio­nen mit Hilfe von vier Themen­fel­dern:

  • New-gene­ra­tion opti­cal compon­ents based on nano­tech­no­logy.
  • New mate­ri­als and proces­ses
  • Sensors and remote moni­to­ring.
  • Fuel cell mate­ri­als.

Welche Stra­te­gie ist die rich­tige?

Antwort: Das kommt darauf an. Zum Beispiel auf die Lebens­phase einer Orga­ni­sa­tion und ihre Größe. Wir beob­ach­ten in der bera­te­ri­schen Praxis, dass rela­tiv junge Unter­neh­men dazu neigen, sich zunächst nach der „Salbei-Stra­te­gie“ zu verhal­ten oder, wenn sie glau­ben, ein wirk­lich attrak­ti­ves und einzig­ar­ti­ges Produkt zu besit­zen, vor allem an der Sicht­bar­keit ihres Ange­bots („Glüh­würm­chen-Stra­te­gie“) arbei­ten. Mit zuneh­men­dem Wachs­tum sowie größe­rer orga­ni­sa­tio­na­ler Ausdif­fe­ren­zie­rung und dem Einfluss exter­ner Inves­to­ren und ihrem Stre­ben nach „share­hol­der value“ rückt die eher gene­ral­stabs­mä­ßige „Wolfs­stra­te­gie“ immer mehr in den Vorder­grund, die eine größere Trans­pa­renz und Bere­chen­bar­keit der Vorgänge und Resul­tate erlaubt, aber mit einem Verlust an Flexi­bi­li­tät und Krea­ti­vi­tät erkauft wird. Einige Kunden versu­chen eine bewusste Kombi­na­tion der vier Stra­te­gie­an­sätze, diffe­ren­ziert nach Produkt- und Markt­seg­men­ten. Wir glau­ben, dass dies der Königs­weg für zukunfts­ori­en­tierte und anpas­sungs­fä­hige Unter­neh­men ist.

1: SMARTe Ziele sind “Speci­fic, Measura­ble, Accepted, Reali­stic, Time Bound”

2: Strengths, Weak­ne­s­ses, Oppor­tu­ni­ties, Thre­ats

Bild­quel­len:

Wolf: Beijing­Wolf (Own work) [Public domain], Wiki­me­dia Commons
Salbei: Jona­t­hun­der (Own work) [GFDL 1.2], Wiki­me­dia Commons
Glüh­würm­chen: Lampy­ris nocti­luca [CC BY-SA 2.0 de], Wiki­me­dia Commons
Vogel­zug: Walter Baxter [CC BY-SA 2.0], Wiki­me­dia Commons