Die Neuerfin­dung der Orga­ni­sa­tion? – “Reinven­ting Orga­niza­ti­ons” von Frédé­ric Laloux

18. November 2015 von Julian-G. Mehler

Laut einer aktu­el­len Studie leis­ten zwei von drei Arbeitnehmer*innen Dienst nach Vorschrift, jede*r siebte hat bereits inner­lich gekün­digt. Seit fünf­zehn Jahren zeich­nen Befra­gun­gen ein bedenk­li­ches Bild der Unzu­frie­den­heit mit ihrer Arbeit – die ja immer­hin einen großen Teil des Lebens bestimmt. Doch es bewegt sich was, es gibt spür­bare Verän­de­run­gen.

Orga­ni­sa­tio­nen im Wandel

Vorrei­ter neuer Orga­ni­sa­ti­ons­for­men mit hoher Mitar­bei­ten­den­mo­ti­va­tion kommen nicht nur von jungen Unter­neh­men und Start-Ups mit Club Mate auf dem Tisch. Der ehema­lige Unter­neh­mens­be­ra­ter und McKin­sey-Part­ner Frédé­ric Laloux unter­suchte viel­mehr 12 Orga­ni­sa­tio­nen sehr unter­schied­lichs­ter Größe, unter­schied­li­chen Alters und unter­schied­li­cher Bran­chen, die es anders machen. Er geht der Frage nach, wie eine radi­kal neue Form sinn­stif­ten­der Zusam­men­ar­beit ausse­hen kann und sucht bei den Orga­ni­sa­tio­nen nach Gemein­sam­kei­ten, die den Unter­schied gegen­über “herkömm­li­chen” Orga­ni­sa­tio­nen ausma­chen.

Seine Erkennt­nisse führt er in dem Grund­la­gen­buch Reinven­ting Orga­niza­ti­ons zusam­men. Darin werden viele heutige Unter­neh­mens­for­men grund­sätz­lich in Frage gestellt. Die alter­na­tive Orga­ni­sa­ti­ons­form beruht dabei weni­ger auf einer Anpas­sung der bishe­ri­gen Modelle, sondern auf einem radi­ka­lem Para­dig­men­wech­sel. Mit dem Unter­ti­tel Ein Leit­fa­den zur Gestal­tung sinn­stif­ten­der Formen der Zusam­men­ar­beit möchte er prak­ti­sche Fragen beant­wor­ten, wie: Wie können neue Orga­ni­sa­tio­nen konkret geformt werden? Wie können wir das beschrei­ben? Was macht den Unter­schied aus? Was sind Merk­male und Prak­ti­ken dieser Orga­ni­sa­tio­nen neuen Typs?

Um die Genese und die Gren­zen unse­rer heuti­gen Orga­ni­sa­ti­ons­for­men zu verste­hen, skiz­ziert er zunächst vier proto­ty­pi­sche Entwick­lungs­stu­fen von Orga­ni­sa­tio­nen:

1. Tribal: Diese Orga­ni­sa­ti­ons­form wird vor allem durch Macht­aus­übung gegen­über Unter­ge­be­nen domi­niert. Im eher chao­ti­schen Umfeld hält Angst die Orga­ni­sa­tion zusam­men. Es herrscht eine Arbeits­tei­lung und Befehls­au­to­ri­tät. Beispiele sind Mafia­struk­tu­ren oder Stra­ßen­gangs.

2. Tradi­tio­nell: Diese stark auto­ri­täre Orga­ni­sa­tion zeich­net sich durch forma­li­sierte Rollen in einer hier­ar­chi­schen Pyra­mide aus. Exakte Prozesse sichern Stabi­li­tät und Hier­ar­chie. Beispiele hier­für sind die Armee oder viele Behör­den.

Die Entwick­lungs­stu­fen der Orga­ni­sa­ti­ons­for­men im zeit­li­chen Verlauf.

3. Modern: Konkur­renz, Expan­sion und Profite domi­nie­ren diese Orga­ni­sa­ti­ons­form. Um die Leis­tung zu stei­gern wird Inno­va­tion wich­tig. Ziel­vor­ga­ben zur Kontrolle der Leis­tung sind ein zentra­les Manage­men­tin­stru­ment. Beispiel hier­für sind multi­na­tio­nale Unter­neh­men.

4. Post­mo­dern: Diese Form ist weiter­hin in einer klas­si­schen Pyra­mi­den­hier­ar­chie orga­ni­siert, jedoch rücken gemein­same Werte in den Vorder­grund. Empower­ment wird zum wich­ti­gen Mittel um heraus­ra­gende Moti­va­tion zu errei­chen. Die wich­tigs­ten Inter­es­sens­grup­pen werden einge­bun­den. Beispiele sind jegli­che Formen kultur­ori­en­tier­ter Orga­ni­sa­tio­nen.

Trotz der geschicht­li­chen Reihen­folge exis­tie­ren die Orga­ni­sa­ti­ons­for­men in ähnli­cher Form weiter­hin – wie die Beispiele zeigen. Doch auch die post­mo­derne plura­lis­ti­sche Orga­ni­sa­tion gerät für viele Orga­ni­sa­tio­nen bereits an die Gren­zen, weil sie weiter­hin in alten Struk­tu­ren verharrt und dem komple­xen Umfeld und den Bedürf­nis­sen vieler Menschen nicht mehr gerecht wird.

Inte­grale-evolu­tio­näre Orga­ni­sa­tion – die neue Orga­ni­sa­ti­ons­form

Eine grund­le­gend neue Form der Orga­ni­sa­tion skiz­ziert Laloux anhand seiner 12 Beispiele, die an der Spitze einer Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung nach neuen und besse­ren Wegen und Möglich­kei­ten suchen, wie Menschen mitein­an­der zusam­men­ar­bei­ten können. Gleich­zei­tig unter­streicht er, dass diese Orga­ni­sa­tio­nen nicht in einem Expe­ri­men­tal­sta­tus sind, sondern alle unge­wöhn­lich erfolg­reich in ihrer Bran­che sind.

Die Meta­pher für diese Orga­ni­sa­tio­nen ist der leben­dige Orga­nis­mus mit all seiner Komple­xi­tät in einem komple­xen Umfeld. Diese “orga­ni­schen” Orga­ni­sa­tio­nen besit­zen wie das natür­li­che Pendant keine Macht­hier­ar­chien, kennen keine Orga­ni­gramme und adap­tie­ren sich eigen­stän­dig an die Umwelt.

Die grund­sätz­li­chen Neue­run­gen dieser evolu­tio­nä­ren Orga­ni­sa­ti­ons­form finden sich in den Berei­chen Selbst­ma­nage­ment, Ganz­heit­lich­keit und im evolu­tio­nä­ren Zweck. Was bedeu­tet dies konkret? Hier einige Beispiele:

1. Selbst­ma­nage­ment – Steue­rung durch kolle­giale Bezie­hun­gen
  • Rollen­über­nahme: Macht­hier­ar­chien lösen sich auf und werden durch flexi­ble natür­li­che Hier­ar­chien ersetzt – den Verwirk­li­chungs­hier­ar­chien. Je nach Fähig­kei­ten und Moti­va­tion über­neh­men Kolleg*innen nach Bedarf Rollen – unnö­tige Rollen lösen sich auf. Konstan­ter Druck zur Leis­tungs­stei­ge­rung wird unnö­tig, intrin­si­sche Moti­va­tion durch eine gute Bezie­hung zu Kolle­gen und sowie die konkre­ten Markt­an­for­de­run­gen rücken ins Blick­feld.
  • Teil­habe: Manage­ment im Sinne einer zentra­lis­ti­schen Führung wird durch Selbst­ma­nage­ment ersetzt, bei dem jeder Teil des Manage­ments wird und an der Macht betei­ligt wird.
  • Verant­wor­tung: Mit dem wach­sen­den Grad der neu gewon­nen Frei­heit wächst die Verant­wor­tung des Einzel­nen. Probleme können nicht mehr auf Führung oder andere Kolleg*innen proji­ziert werden.
  • Bera­tung: Entschei­dungs­fin­dung findet nicht mehr hier­ar­chisch statt, sondern in einem Bera­tungs­pro­zess und der anschlie­ßen­den Verant­wor­tungs­über­nahme. Vor der Entschei­dung müssen alle Betrof­fe­nen der Entschei­dung konsul­tiert werden, was nicht mit einem Konsens zu verwech­seln ist.
2. Ganz­heit­lich­keit – Einbe­zie­hung der ganzen Person in die Arbeit
  • Authen­ti­zi­tät: In klas­si­schen Orga­ni­sa­ti­ons­for­men tragen Mitarbeiter*innen häufig Masken und verdrän­gen einen Teil des eige­nen Selbst. Sie können nicht so sein, wie sie es natür­li­cher­weise wären. Das zeigt sich beispiels­weise in Klei­dung, Verhal­ten, Spra­che, Selbst­kon­trolle. Wenn man so sein kann, wie man ist, können Masken abge­legt werden.
  • Frei­heit: Titel, Konkur­renz­den­ken, Selbst­dar­stel­lung und andere Fakto­ren der Domi­nanz und Absi­che­rung werden unbe­deu­tend, da sie nicht mehr ausschlag­ge­bend sind und Karriere nicht von Macht, Verdrän­gung und Hier­ar­chie geprägt sind.
  • Konflikt­ma­nage­ment: Infor­ma­tio­nen werden trans­pa­rent geteilt. Kollek­tive Intel­li­genz und frühes Feed­back verhin­dert und löst Konflikte. Viele Orga­ni­sa­tio­nen schaf­fen hier­für konstruk­tive Lösungs­stra­te­gien – ähnlich der kolle­gia­len Bera­tung.
3. Evolu­tio­nä­rer Zweck – Die Orga­ni­sa­tion passt sich selbst an und wächst
  • Perfor­mance Manage­ment: Der Fokus liegt auf der Team­leis­tung, statt Einzel­leis­tung. Die Beur­tei­lung der indi­vi­du­el­len Leis­tung erfolgt nicht durch eine Führungs­kraft, sondern ist ein Team­pro­zess.
  • Ausrich­tung auf den Sinn: Das Ziel des Wirt­schaf­tens ist heute oft den Gewinn zu maxi­mie­ren oder an die Spitze zu kommen. Evolu­tio­näre Orga­ni­sa­tio­nen erwei­tern die Verant­wor­tung nicht nur auf Inves­to­ren, sondern auch auf Kund*innen, Mitar­bei­tende, Zulie­fern­den und ande­ren Inter­es­sens­grup­pen.
  • Vertrauen und zuhö­ren: Manage­ment­mo­delle basie­ren oft auf der möglichst genauen Vorher­sage der Zukunft und deren Kontrolle. Evolu­tio­näre Orga­ni­sa­tio­nen vertrauen stär­ker auf den gemein­sa­men Sinn für die Entwick­lungs­rich­tung der Orga­ni­sa­tion. Statt Stra­te­gien vorzu­ge­ben, wird eher eine Sensi­bi­li­tät für die Bewe­gungs­rich­tung ausge­bil­det, zuge­hört und dem Weg gefolgt.

Von den eige­nen Mitar­bei­ten­den lernen

Für jene, die heute bloß noch Dienst nach Vorschrift machen, dürfte Reinven­ting Orga­niza­ti­ons wie eine pathe­ti­sche Utopie erschei­nen. Woan­ders ist das hier beschrie­bene Umden­ken längst Wirk­lich­keit gewor­den. Hier gibt das Buch Führungs­kräf­ten prak­ti­sche Impulse für die Ausrich­tung der Arbeit an den Bedürf­nis­sen der Menschen. Dabei werden die Kolle­gen der Gene­ra­tion Y und Gene­ra­tion Z immer wieder zu wert­vol­len Hinweis­ge­bern für tatkräf­tige und krea­tive Teams. Oder wie wir bei denk­mo­dell es zum Leit­mo­tiv unse­rer Bera­tung gemacht haben: Leis­tungs­fä­hige Orga­ni­sa­tio­nen mit Sinn für den Menschen.

Das Buch Reinven­ting Orga­niza­ti­ons:
  • Reinven­ting Orga­niza­ti­ons. Ein Leit­fa­den zur Gestal­tung sinn­stif­ten­der Formen der Zusam­men­ar­beit von Frédé­ric Laloux, 356 S., Vahlen Verlag, 2015 (in Deutsch und Englisch erhält­lich – z.B. über Buch.de)
  • eBook: Alter­na­tiv bietet der Autor auf seiner Home­page das eBook als pay-what-feels-right an. Es ist als Down­load verfüg­bar und der Kunde entschei­det welchen Preis er oder sie dafür zu zahlen möchte.
Videos über Reinven­ting Orga­niza­ti­ons:

Lean and Agile Adop­tion with the Laloux Culture Model