Entschei­dungs­ma­nage­ment in der Praxis

18. Dezember 2011 von Dirk Jung

„Manage­ment heißt schnell entschei­den und jeman­den finden, der die Arbeit macht.” (J.G.Pollard)

Entschei­dun­gen zu tref­fen zählt nach Ansicht des St. Galle­ner Manage­ment­ex­per­ten Fred­mund Malik zu den fünf wich­tigs­ten Aufga­ben effi­zi­en­ter Führung.1 Zugleich gilt aber die Faust­re­gel, dass Entscheidungsträger*innen mit zuneh­men­dem Aufstieg immer weni­ger „wissen” können, was sie entschei­den und welche Konse­quen­zen ihr Handeln haben wird. Sie können nicht das geballte Fach- und Fakten­wis­sen aller nach­ge­ord­ne­ten Abtei­lun­gen in Betracht ziehen, ehe sie eine Entschei­dung tref­fen. Statt­des­sen hängen sie von verdich­te­ter, unvoll­stän­di­ger und bereits inter­pre­tier­ter Infor­ma­tion ab. Nicht immer ein Leich­tes, damit umzu­ge­hen.

In einer von denk­mo­dell bera­te­nen deut­schen Bank erzählt man sich immer noch die Legende von dem ehema­li­gen Sach­be­ar­bei­ter, der nach seiner Beför­de­rung zur Führungs­kraft seine Nächte damit verbrachte, die Akten seiner Mitarbeiter*innen zu lesen, weil er es nicht ertra­gen konnte, Entschei­dun­gen unter Unsi­cher­heit und unvoll­stän­di­ger Infor­ma­tion zu tref­fen. Ihm fehlte ein wich­ti­ges Element des effi­zi­en­ten Entschei­dungs­ma­nage­ments, Vertrauen.

Was wirk­lich zählt

Vertrauen redu­ziert sowohl die Komple­xi­tät von Entschei­dungs­al­ter­na­ti­ven als auch die Kontroll­kos­ten bei der Umset­zung von Entschei­dun­gen. Wenn wir unser Entschei­dungs­ma­nage­ment verbes­sern möch­ten, soll­ten wir uns aber auch von eini­gen Illu­sio­nen befreien2.

  1. Die Illu­sion, das Problem sei klar. Die meis­ten Manager*innen gehen viel zu schnell zur Entschei­dung im enge­ren Sinne über. Sie glau­ben, es sei klar, worüber zu entschei­den ist und worin das Entschei­dungs­pro­blem besteht. In Wahr­heit muss das Problem erst aus einer Melange von Daten, Tatsa­chen und Meinun­gen heraus­de­stil­liert werden. Die Frage „Was ist hier los?” ist oft viel wich­ti­ger als die Frage „Was muss getan werden?”
  2. Die Illu­sion, viele schnelle Entschei­dun­gen tref­fen zu müssen. Viele Führungs­kräfte glau­ben, wenn sie mit Hoch­druck am laufen­den Band Entschei­dun­gen produ­zie­ren, sei das ein Beweis von Führungs­kom­pe­tenz. Wirk­lich gute, effek­tive Manager*innen tref­fen aber nur wenige Entschei­dun­gen. Sie konzen­trie­ren sich auf die Grund­satz­fra­gen, auf die wirk­lich wich­ti­gen Entschei­dun­gen – und diese tref­fen sie mit Bedacht.
  3. Die Illu­sion, die erst­bes­ten Alter­na­ti­ven seien ausrei­chend. Verbrei­tet ist die Tendenz, nicht lange genug nach Entschei­dungs­al­ter­na­ti­ven zu suchen. Etli­che Manager*innen geben sich zufrie­den mit den Vari­an­ten, die ihnen auf eine erste Nach­frage hin auf den Tisch gelegt werden. Profes­sio­nelle Entscheidungsträger*innen haben jedoch keine Hemmun­gen, selbst die schein­bar besten Analy­sen ihrer Mitarbeiter*innen zurück­zu­wei­sen mit der Frage: „Gibt es nicht noch mehr Alter­na­ti­ven?”
  4. Die Illu­sion, die Entschei­dung als solche sei wich­tig. Selbst­ver­ständ­lich sind Entschei­dun­gen wich­tig. Und gute Entschei­dun­gen sind auch schwie­rig. Die Entschei­dung als solche ist aber noch immer viel weni­ger wich­tig und auch weni­ger schwie­rig als etwas ganz ande­res, was die meis­ten zu wenig beach­ten: die Umset­zung der Entschei­dung. Viel zu häufig erlahmt der Führungs-Elan schlag­ar­tig, nach­dem die Entschei­dung getrof­fen wurde und alle Betei­lig­ten gehen wieder zum Tages­ge­schäft über.
  5. Die Illu­sion, es käme auf Konsens an. Natür­lich: Am Schluss eines Entschei­dungs­pro­zes­ses ist Konsens wich­tig. Konsen­sierte Entschei­dun­gen haben eine wesent­lich höhere Reali­sie­rungs­chance als andere. Doch trag­fä­hi­ger Konsens, der dann wenn Reali­sie­rungs­schwie­rig­kei­ten auftre­ten, auch wirk­lich hält, entsteht nicht aus allge­mei­nem Harmo­nie­stre­ben, sondern nur aus einem zuvor offen ausge­tra­ge­nen Dissens. Endlose Verhand­lungs­run­den zur konsen­sua­len Entschei­dungs­fin­dung zeugen oft nicht von parti­zi­pa­ti­vem Führungs­stil sondern von der Angst, Entschei­dun­gen alleine verant­wor­ten zu müssen
  6. Die Illu­sion, man müsse kompli­zierte Metho­den anwen­den. Wer im Studium viele kompli­zierte Metho­den wie Nutz­wert­ana­lyse, Opera­ti­ons-Rese­arch-Metho­den usw. erlernt hat, unter­liegt leicht dem Irrtum, dass wich­tige und komplexe Entschei­dun­gen ebenso komplexe Metho­den erfor­dern. Die meis­ten Entschei­dun­gen im Manage­ment-Alltag lassen sich jedoch ohne derar­tige Metho­den tref­fen. Seit eini­gen Jahren ist sogar eine Renais­sance der „Bauch­ent­schei­dung” in der Manage­ment­li­te­ra­tur zu beob­ach­ten.

Vier Entschei­dungs­fal­len

Nach­dem wir uns nun aller Illu­sio­nen zum Thema Entschei­dungs­ma­nage­ment beraubt haben, lauert die nächste Hürde auf uns: das Erken­nen und Umge­hen von Entschei­dungs­fal­len. Eine neuere Veröf­fent­li­chung3 nennt unter ande­rem die folgen­den Fallen, die im Manage­ment-Alltag oft zu beob­ach­ten sind:

  • Die Ange­bots­falle: Der Teppich­händ­ler im Soukh von Marra­kesh brei­tet am Schluss seiner Verkaufs­show drei Teppi­che aus, einen grünen, einen roten und einen blauen und fragt: „Welcher gefällt Ihnen besser?” Damit drängt er die poten­ti­el­len Käufer*innen dazu, sich mit diesen (schein­ba­ren) Alter­na­ti­ven zu beschäf­ti­gen, statt über ihren tatsäch­li­chen Bedarf nach­zu­den­ken und diesen klar zu defi­nie­ren. Wenn der solcher­art bedrängte Tourist*innen dies nämlich tun würde, könn­ten sie sich vermut­lich Fragen stel­len wie z.B. „Was will ich eigent­lich mit einem Teppich? Den Boden gegen Kälte isolie­ren? Ein schö­nes Raum­ge­fühl erzeu­gen? Einen Wert­ge­gen­stand erwer­ben? Eine Reise­er­in­ne­rung mitneh­men?” Jede dieser Antwor­ten eröff­net neue Entschei­dungs­al­ter­na­ti­ven und lässt sie der Ange­bots­falle des Teppich­händ­lers entkom­men.
  • Die Elefan­ten­falle: Nehmen wir an, es soll über den Ankauf einer neuen Produk­ti­ons­ma­schine entschie­den werden. Um sich für das rich­tige Modell zu entschei­den, werden sieben Krite­rien verwen­det: Inves­ti­ti­ons­kos­ten, Wartungs­kos­ten, Perso­nal­kos­ten, Betriebs­kos­ten, Bedie­nungs­freund­lich­keit, Kosten der Ersatz­teil­be­schaf­fung sowie Lärm­be­las­tung. Merken Sie etwas? Der Elefant verbirgt sich hinter 5 schein­bar einzeln und gleich­be­rech­tigt neben­ein­an­der stehen­den Krite­rien, die insge­samt dem Entschei­dungs­kri­te­rium „Kosten” ein gewal­ti­ges Über­ge­wicht verlei­hen gegen­über den übri­gen beiden Krite­rien Bedie­nungs­freund­lich­keit und Lärm­be­las­tung. Es ist zu empfeh­len, den Aspekt der Kosten zusam­men­zu­fas­sen („einzu­damp­fen”) und dann den übri­gen Krite­rien gleich­wer­tig zur Seite zu stel­len.
  • Die Wahl­los­falle: Der*die Entscheider*in kann schein­bar nur zwischen zwei Optio­nen entschei­den: Macht er*sie es oder macht er*sie es nicht? Das Unwort des Jahres 2010 war nicht ohne Grund: „alter­na­tiv­los”. Wie kommt man aus dieser Falle („take it or leave it”) heraus? Antwort: Indem man das Problem als offene Frage formu­liert, d.h. mental einen Schritt zurück­tritt. Damit öffnen sich wieder neue Optio­nen. Ein Beispiel: Der*die Bankberater*in stellt Ihnen die Wahl­los-Falle: „Nehmen Sie den Baukre­dit für Ihr neues Haus oder nicht?”. Aus der Falle heraus kommen Sie, indem Sie sich z.B. fragen: „Wie kann ich mir ein Haus bauen ohne mich allzu sehr zu verschul­den?” Oder noch offe­ner: „Wie kann ich in einem schö­nen Haus leben, das ich mir finan­zi­ell leis­ten kann?”. Und schon eröff­net sich eine Viel­zahl neuer Lösungs- und Entschei­dungs­op­tio­nen, die den*die Bankberater*in unter Umstän­den über­flüs­sig machen…
  • Die Treib­jagd­falle: Dies ist ein sehr belieb­ter Trick bei der Insze­nie­rung inter­na­tio­na­ler Konfe­ren­zen oder umstrit­te­ner Abstim­mun­gen im Parla­ment. Der*die Entscheider*in wird von ande­ren zu einer Entschei­dung gedrängt. Dabei kann der Druck durch soziale Bedrän­gung („Wir sind uns einig, nur du blockierst alles!”), durch Zeit­druck („die Uhr läuft ab!”) oder durch Drohung düste­rer Konse­quen­zen bei zöger­li­cher Entschei­dung („Die Finanz­märkte brau­chen ein klares Signal!”) erzeugt werden. Dadurch werden oft inter­es­sante Alter­na­ti­ven über­se­hen und Konse­quen­zen nicht genü­gend durch­dacht. Um der Falle zu entkom­men, sollte man über die Motive der „Bedrän­gen­den” nach­den­ken und sich selbst klare Entschei­dungs­ziele und Zeit­ho­ri­zonte setzen.

Es gibt verschie­dene Tools, um Entschei­dungs­ma­nage­ment effi­zi­ent zu gestal­ten. Zwei Metho­den seien hier beson­ders herzu­he­ben, allen voran die „10 – 10 – 10″ Regel von Suzy Welch, Frau des Ex-Gene­ral-Elec­tric-Bosses Jack Welch. Im Grunde eine sehr einfa­che Idee (was Frau Welch nicht darin hinderte, gleich ein erfolg­rei­ches Buch4 darüber zu schrei­ben), aber mit einem nütz­li­chen Grund­ge­dan­ken: Wenn man vor Entschei­dungs­al­ter­na­ti­ven steht und sie abwägt, sollte man über die vermut­li­chen Konse­quen­zen nach­den­ken, die jede Entschei­dungs­mög­lich­keit in zehn Minu­ten, zehn Mona­ten und zehn Jahren haben wird.

Fami­lie oder Beruf

Suzy Welch erklärt ihr Prin­zip an einer einfa­chen Geschichte: Ihr Chef forderte sie auf, an einem Sonn­tag auf einem Meeting mit wich­ti­gen Kund*innen zu erschei­nen und dort eine Präsen­ta­tion zu leiten. An dem glei­chen Sonn­tag aber hatte ihr Sohn nach Mona­ten des Trai­nings seine Prüfung zur Erlan­gung des schwar­zen Kara­te­gür­tels. Was tun? Ihr Gedan­ken­gang nach der 10−10−10 Regel verlief wie folgt:

„Wenn ich zum Meeting gehe, wird mein Sohn nach zehn Minu­ten in Tränen aufge­löst sein, trau­rig und verschlos­sen. Gehe ich nicht zum Meeting, wird mein Chef zwar nicht weinen, aber mich die Enttäu­schung spüren lassen.

In zehn Mona­ten wäre der Schmerz meines Sohnes vermut­lich verflo­gen, weil ich mich aus schlech­tem Gewis­sen so sehr ange­strengt hätte ihn zu verwöh­nen und ihm meine Liebe zu bewei­sen. Umge­kehrt würde das Glei­che mit meinem Chef passie­ren, auch hier würde ich mich sehr ange­strengt haben, um ihn wieder zu versöh­nen und die Scharte auszu­wet­zen.

In zehn Jahren jedoch würde ich ein Problem haben: Mein Sohn wäre längst aus dem Haus und meine Karriere vermut­lich in vollem Aufschwung. Aber mein Sohn würde sich immer noch daran erin­nern, dass ich in einem der wich­tigs­ten Momente seines jungen Lebens nicht bei ihm gewe­sen bin, weil ich mich gegen ihn und für meine Karriere entschie­den hätte. Diese Konse­quenz war für mich inak­zep­ta­bel. Daher war es leicht für mich, gegen das Meeting und für die Kara­te­prü­fung zu entschei­den.”

Team­dy­na­mik ausschöp­fen

Neben Suzy Welchs Methode gibt es auch die Entschei­dungs­hilfe „Acht Phasen einer Grup­pen­ent­schei­dung”. Die nach­ste­hend aufge­führ­ten acht Schritte bilden einen hervor­ra­gen­den Fahr­plan für die Mode­ra­tion einer syste­ma­tisch herbei­ge­führ­ten Grup­pen­ent­schei­dung. Sie enthält ein beson­de­res Juwel, Schritt 2. Dort wird die Entschei­dungs­fin­dung bewusst verzö­gert, indem die Betei­lig­ten sich zunächst auf die Krite­rien für eine gute und konsens­fä­hige Entschei­dung eini­gen statt auf die Entschei­dung selbst. Durch diesen Zwischen­schritt werden fest­ge­fah­rene Posi­tio­nen wieder verflüs­sigt und die spätere Eini­gung geför­dert.

1 Fred­mund Malik: Führen, Leis­ten , Leben, Heyne Verlag, München 2011
2 Fred­mund Malik: Mana­ger­Se­mi­nare, Heft 66, Mai 2003
3 Kai-Jürgen Lietz: Das Entschei­der-Buch – 15 Entschei­dungs­fal­len und wie man sie vermei­det. Carl Hanser Verlag, München 2007
4 Suzy Welch, 10−10−10, Barnes&Noble 2009